Begleittext Rückzug 2010
Eine Intervention im Staatlichen Museum Schwerin:
3 von 7 Soldatenfiguren, ca. 190 cm hoch, 4 cm dick, Holz, Hartfaser, Acrylfarbe, Styropor, Alltagsgegenstände
Die 2006 entstandene Arbeit Rückzug besteht eigentlich aus 7 Soldatenfiguren. Tino Bittner nahm dafür Bilder von Soldaten in internationalen militärischen Einsätzen aus dem Internet und veränderte sie so, dass sie nicht mehr als Individuen erkennbar sind. Dann wurden sie in beinahe Überlebensgröße auf dünne Holzplatten übertragen. Diese Stereotypisierung und Monumentalisierung tragen zum bedrohlichen Charakter der Figuren bei, die in ihren Bewegungen immer noch auf militärische Aktionen, auf Angriff oder Verteidigung zurückzuführen sind. Ihre Bewegungen hat Tino Bittner umgedeutet, indem er ihnen Gebrauchsgegenstände des täglichen (zivilen) Lebens hinzufügte. Bilder aus den Massenmedien treffen auf gefundene, industriell produzierte Alltagsgegenstände im besonderen Raum des Museums. „Ich arbeite bevorzugt mit vorgefundenen Situationen, Räumen und Materialien“ sagt der Künstler.
Bei Bittners Intervention treffen die Figuren auf Arbeiten Marcel Duchamps, des Künstlers, der zu Beginn des 20. Jahrhunderts das Ready-made – den industriell gefertigten Gebrauchsgegenstand – in die Kunst einführte und damit den etablierten Kunstbegriff empfindlich attackierte. Der Anknüpfungspunkt zwischen Bittners Arbeit und Duchamp ist auf den ersten Blick nicht offensichtlich, dennoch wird deutlich, wie der zeitgenössische Künstler das Konzept des Ready-mades weiterentwickelt, ausweitet und in die heutige Zeit transformiert. Subtil ist der Umgang mit den verschiedenen künstlerischen Gattungen, die Bittner miteinander verknüpft: so wird aus der Fotografie die überlebensgroße, mit Bewegungen in den Raum ausgreifende Skulptur, die aber so flach ist, dass sie – von einem bestimmten Blickwinkel aus betrachtet – zur schwarzen Linie im Raum zusammenschmilzt.
Dieses Changieren trifft auch auf die Wahrnehmung der Figuren zu, die auf Bilder von Soldaten zurückgeht, wie sie hundertfach im kollektiven Gedächtnis gespeichert sind. In unserer westeuropäischen Welt ist die Begegnung mit dem Krieg auf das kurze Überfliegen von Bildern in den Medien geschrumpft. Die Bedrohung, die von diesen Bildern ausgeht, nehmen wir kaum wahr. In den massenmedial vermittelten Einsätzen von Soldaten sehen wir hinter dem „Helfer“ nur selten den Soldaten. Diesen Automatismus macht Bittner offensichtlich.
Die 7 Figuren der Arbeit Rückzug sind zu einer wandernden Truppe mit Eigenleben geworden, die überall überraschend auftauchen kann (in unterschiedlicher Anzahl), in unterschiedlichen Kontexten, um unsere geprägten Sehgewohnheiten und Wahrnehmungsweisen zu irritieren und neue Sichtweisen zu eröffnen und unser reflexives Nachdenken anzuregen.
Antonia Napp
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