Eröffnungsrede
„Tino Bittner – BEATS-BREAKS-CUTS, Objekte und Bilder“
2016
Zurzeit grassiert ein ansteckendes Computerspiel namens Pokémon Go, wobei
die olle Kamelle der sonderbaren 90er Jahre- Fantasywesen aus Ihrem
wohlverdienten Sarg geholt und mit der aktuellen Smartphone- Technologie zu
einem vermeintlichen Hybrid aus virtueller und echter Welt verschmolzen
wurde. Ein gutes Geschäft für die Erfinder dieses Vergnügens und ein Spaß für
alle Egoshooter, die nun den Außenraum mit Ihren autistischen Spasmen
bereichern. Neben Retroästhetik mit Stolpergefahr offenbart diese neuartige
Spielwiese vor allem eines: Brot und Spiele sind allemal motivierender als all
jene Versuche die Brille mal andersherum aufzusetzen. Stumpf spielt gut. Und
im Prinzip bestehen die Wirklichkeiten gut nebeneinander, die
Ausfallerscheinungen bestärken sich lediglich auf groteske Weise wechselseitig.
Ein anderes Ding ist es, den Strukturen der digitalen Welt experimentell
nachzuforschen oder umgekehrt unsere Analogwelt mit Nachschöpfungen des
virtuellen Kosmos zu bevölkern, die eben nicht miteinander identisch sind.
Tino Bittner testet in seiner Kunst aus wieviel „Realraum“ wir uns noch
zutrauen bzw. ob wir noch Zutrauen zum Realraum besitzen, dieses Interesse
bedingt die raffinierte Dialektik seiner ebenso klaren wie komplexen Artefakte.
Sowohl in den kantig-leichten „Clouds“ aber auch in den fest gezurrten,
ausufernden Objektbildern („Brüderchen und Schwesterchen“; „Sterntaler“)
dient eine Vergröberung der Elemente dazu, die Zeichenhaftigkeit des
Bildlichen zu hinterfragen. Dies greift tiefer als das klassische
Augentäuscherbild, das Trompe-l´oeil, weil hier Oberflächen nicht malerisch
imitiert werden, sondern taktile Qualitäten genutzt werden und die Fläche real
in den Raum erweitert wird. Und die coole „Cloud“ ist eben doch ein
ausgesprochen handfeste Gebilde, weder die luftig-physikalischen
Erscheinungen am Himmel noch die gleichnamige Datensammelstelle können
da mithalten. Die Formen beugen sich der Vorstellung und dies bringt Tino
Bittner auf den Punkt. Dabei täuscht die poppige Gewandung, das Design-artige,
denn letztlich sind diese Raumelemente nicht sinn- und zweckgebunden, aber
auch nicht Sinn frei. Ich sehe vielmehr in ihnen – gerade im Zusammenhang als
Ensemble – Parallelen zu den historischen Allegorien, die über Ihre Vanitas-
Symbolik hinaus vor allem als Denkbilder bezeichnet werden können.
Räumliche Erscheinungen die sich auf sanfte Weise ins Bewusstsein graben und
eine hinterhältige Nachhaltigkeit entfalten … Verführerische Angebote zum
kritischen Nachvollzug.
Alphabetisierungen im Raum, welche die Verschiebungen und Konsequenzen
aufscheinen lassen, denen wir uns – freiwillig oder gezwungenermaßen –
unterwerfen: Nur nicht dem Trugschluss erliegen, man „begreife“ dabei
wirklich etwas! Auch die Makropixel des „Lateinischen Quadrates“ – eine
vergleichbar dem Raumschach ins Dreidimensionale transformierte, allerdings
unspielbare Sudoku- Variante – bleiben rätselhaft hermetisch und apollinisch –
unerreichbar in ihrer schwebenden Transparenz. Beam me up, Bittner!
Diese lupenreine Ästhetik narrt uns alle mit Ihrem Anstrich vordergründiger
Eingängigkeit. Dies wird manchmal unterstützt durch Werktitel, die aus dem
deutschen Märchen- und Sagenschatz entnommen sind und nur auf neue
Abwege führen: „Sterntaler“, „Brüderchen und Schwesterchen“ – zerstobene
Menschenbilder, aufgelöste und wieder in Retorten eingefangene anonyme
Porträts, Zeitbilder, die beängstigen weil sie – tatsächlich geschichtslos – einen
Rattenschwanz an individuellen Projektionen oder Mutmaßungen loslassen.
Auch diese Arbeiten besitzen allegorische Kraft. Ihre ureigene Haltlosigkeit gibt
ihnen die Aura von Verletzlichkeit und Würde.
Und manchmal möchte man an die Hand genommen werden um nicht verloren
zu gehen in diesem dunklen Wald, der eben gar nicht dunkel ist, sondern hip
und hell. Zumindest sollten wir besser Brotkrumen in der Tasche haben um
den Weg zurück nach Hause zu finden.
Läßt man sich darauf ein, und das räumliche Ensemble gewährleistet dies
überlegt, so etabliert sich eine Unordnung gegenseitiger Verweisungen,
Überlagerungen und Eingänge. Das irritiert, verwirrt und motiviert – zum
Entdecken und zum Komponieren! Das Angebot nötigt sanft zur
Selbstorganisation und – so ganz nebenbei – zu einem Nachdenken über Form
und Raum.
Der Maler Per Kirkeby bemerkt in seinem Text Museumsausstellungen: „In dem
Bereich, mit etwas Stoff eine Ordnung zu bilden, die sowohl auf dem Stoff
basiert, als auch auf Ideen, Vorstellungen, etwas zu erzählen zu haben, – in
diesem Bereich lassen sich Bilder schaffen, die Möglichkeiten für Erleben in sich
bergen, Bilder, die sowohl die Dinge als auch die Systematik beinhalten müssen.
Beides, sonst funktioniert es nicht.“
Ich meine, Tino Bittner hat genau diesen wesentlichen Aspekt immer im Auge,
wenn er eine Ausstellung plant und konzipiert. Sehr sorgsam arbeitet er mit
ausgesuchten, zumeist poveren Materialien, oft mit Abfällen oder sonst wie
ausgesonderter Materie und remixed das Zeug in seiner bemerkenswerten
Dreckapotheke zu neuer Materie.
Und dann kann die Raumkapsel Galerieraum eine Keimzelle werden und
zugleich eine Auflade- und Prüfstation sein für die neugierigen Geister unter
uns. Denn wie in einer hypermodernen Wunderkammer wird eine Kostprobe
individueller Interpretation von Welt präsentiert, jedoch nicht als eitler
Wissensfundus, sondern als ambulante Sehschule auf der Höhe der Zeit. Ohne
jetzt den pädagogischen Auftrag für die Kunst zu formulieren ist es doch kein
Wunder, das gerade Künstler die zeitgenössischen Sehbehinderungen ihrer,
unserer Zeit, genau aufs Korn nehmen und eigene Überlegungen und
Findungen dem entgegensetzen. Allerdings liegen diese Angebote eben nicht
wohlfeil auf dem Tresen, sie sind nicht käuflich; möglicherweise hängen sie in
den Wolken, sind in den Träumen und Meditationen zu erhaschen.
Ärgerlicherweise ist die Wolke hier im Raum von Zielscheiben kolonisiert.
Treffer versenkt! Alle Plätze schon vergeben. Wenn darin allerdings nur ein
sarkastischer Bildwitz zum Thema romantisierender Wolkenguckerei gesehen
wird, entgeht einem das hübsche Outfit, welches durch die parasitierenden
Targets entsteht. Nicht das einzige Werk, welches vordergründig als
Musterbogen herhalten kann. Die Einschnitte in das Wahrzunehmende sind
vorprogrammiert und verunsichern kalkuliert. Die herauspräparierten Objekte
scheinen steril und isoliert ihr So-Sein zu fristen; im Zusammenspiel aber
beginnen die Muster zu pulsieren und zu oszillieren.
Dann ist wieder an die Märchen zu denken, an einen Bilderstrom, der Schönes,
Rätselhaftes und Beunruhigendes evoziert, Verwirrung und Ordnung zugleich
stiften kann. Was also tun? Blicke und Vorstellungen kollidieren lassen um auf
Neues zu stoßen, oder auf Uraltes zurückgeworfen zu werden? Vor allem gilt es
auf den Sound zu horchen der dabei entsteht und die Rhythmen mitzunehmen
in die Welt da draußen, die immer auch der Märchenwald ist den wir darin
erblicken.
© Timon Kuff 2016
Literaturnachweis:
Per Kirkeby: Museumsausstellungen, in: Ders.: Bravura. Ausgewählte Essays. Aus dem
Dänischen von Johannes Feil Sohlmann. Verlag Gachnang & Springer, Bern – Berlin 1991
(S.204-208)
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