Dr. Christina May 2021

Katalogtext
Land In Sicht – Die Kunstankäufe des Landes Mecklenburg-Vorpommern, 2018-2020
„Tino Bittner – Hokus Pokus / Handspiel
2021

 

Die Magie der Hände – Tino Bittner

Die Worte „Hokuspokus“ spricht ein Zauberer niemals ohne die begleitenden Bewegungen seiner Hände. Nur scheinbar gehören aber gesprochen Sprache und Gesten zusammen. Geschickt leiten die Handbewegungen den Trick ein, lenken die Blicke des Publikums ab und lassen eine magische Illusion entstehen.

Tino Bittners Bild-Objekte aus den Reihen „Handspiel“ und „Hokuspokus“ führen verschiedene Bewegungen der Hände vor. Jeweils ein Handpaar ist mit schwarzen Linien auf transparente Folie gezeichnet. Insgesamt sind fünf Folien hintereinandergelegt, die sich konvex aus einem schwarzen Bilderrahmen hervorwölben, so als würden sie einen ephemeren Körper formen. Die Einzelbilder, die kleine Veränderungen in der Stellung der Finger aufweisen, suggerieren in ihrer Reihung eine Bewegung. Die seriellen Bilder erinnern an Aufnahmen des Filmpioniers Eadweard Muybridge, der Einzelbewegungen von Tieren und Menschen fotografierte und aneinanderreihte, um realistische Bewegungsdarstellungen zu erforschen. Der analoge Kinofilm mit schnell hintereinander abgespielten fotografischen Einzelbildern nutzte anschließend die Trägheit des Auges dazu, den Anschein von zeitlicher Abfolge und damit von Bewegung und Lebendigkeit zu vermitteln. Doch anders als das schnelle Blättern eines Daumenkinos oder das Abspulen der Filmrolle, ist die Bewegung in Bittners Bild-Objekten eingefroren. Die Lackstiftzeichnungen auf der transparenten PVC-Folie erscheinen nicht nacheinander, sondern sind gleichzeitig sichtbar wie bei einer Mehrfachbelichtung. Die vierte Dimension Zeit ist verräumlicht und der lineare Ablauf simultan sichtbar.

Diese Gleichzeitigkeit irritiert die Betrachtenden. Die Handbewegung als scheinbar Vertrautes wird bei näherem Hinsehen zunehmend komplizierter. In dieser Irritation steckt der Aufforderungscharakter von Bittners Arbeiten. Die Betrachtenden können sich auf das Spiel mit der visuellen Wahrnehmung einlassen und durch konzentriertes Sehen und Ausprobieren die Handhaltungen gedanklich und körperlich nachvollziehen. Dabei wird offenbar, dass die Hände des „Handspiels“ sich wechselseitig öffnen und schließen, wodurch in der Gesamtschau eine Symmetrie entsteht. Bei „Hokuspokus“ vollziehen die Hände in asymmetrische Bewegungen kleine, bekannte Zaubertricks.

Tino Bittner widmet den Gesten und Bewegungen einen ganzen Werkkomplex. Vor allem Hände treten immer wieder auf. Generell geht es in diesen zeichnerischen und skulpturalen Arbeiten um Handlungen, die für Bittner das Wesen des Menschlichen ausmachen: Gleichermaßen dienen Hände sowohl als Werkzeuge für physische Tätigkeiten als auch als abstrakte Zeichen und somit als sprachliche Kommunikationsmittel.

Als Gesten können sie ganz unmittelbar als ikonische Zeichen dienen, etwa im Schattenspiel zu Krokodil- oder Hasenfiguren verwandelt werden. Der Zeigefinger verweist, wie schon im Namen steckt, als indexikalisches Zeichen auf Menschen, Gegenstände oder Himmelsrichtungen. Komplex werden die Handgesten auf der Symbolebene: Gebärdensprache basiert auf kulturell vereinbarten Gesten. Ebenso sind Handgesten in der christlichen Ikonografie tief verankert und sollen als Pathosformel universelle Lesbarkeit garantieren. So symbolisiert die erhobene rechte Hand auf zahlreichen Gemälden Christi Rede oder die Beinahe-Berührung von Zeigefingern in Michelangelo Buonarrotis berühmten Fresko in der Sixtinischen Kapelle die Erschaffung Adams. Das alltäglich Vertraute transzendiert somit zum Universellen.

Fingerspiele können im Gegenteil zu diesem Universalismus auch geheime Beschwörungsformeln sein. Finger vollführen geschickte Tricks zum Zaubern, bei dem sie gleichzeitig Zeigen und als Ablenkungsmanöver dienen. Abzählreime und Kinderspiele unterstützen oder ersetzen die gesprochene Sprache als spielerische Vorstufen oder parallele Zeichensysteme. Akrobatische Hand- und Fingerspiele gehören zu den Begrüßungsritualen von Gangmitgliedern, die für Außenstehende undurchschaubar sind und somit komplexe Geheimriten einer Alltagskultur.

Dieses unpathetische Tricksen ist den Händen in Tino Bittners Arbeiten zu eigen. Die Hand als alltäglich Naheliegendes und, im Wortsinn real Greifbares, kann sich zu etwas Abstrakten wandeln. Auf diese Weise wird auch das einfach Material, die Folie, Lackstift und Bilderrahmen, unter Bittners Händen zu einem medialen Wahrnehmungsapparat. Bittner entwirft die Hände aus Fotografien als Ausgangsmaterial und entwickelt die Bewegungsabläufe mithilfe digitaler Bildbearbeitung weiter, so dass sie zumindest zum Teil abstrakten Schemata entsprechen. Er mischt diese mit der Freiheit der Handzeichnung. Das Universelle und das Individuelle vermischt sich. Damit entsteht sowohl auf der formalen als auch auf der motivischen Ebene das Moment einer Transformation, das „Handspiel“ und „Hokuspokus“ innewohnt.

Der Schweriner Künstler ist Mitglied des Künstlerkollektivs Dezernat5, das mediale Grenzüberschreitungen austestet. Während die Künstlerkollegen Udo Dettmann und Thomas Sander zwischen Malerei, Plastik und Video changieren, arbeitet Bittner an einer Videokunst ohne Strom. Bittner nutzt bewusst kinematografische Elemente und Wahrnehmungseigenschaften elektronischer Medien. So wird die Blackbox des Kinoraumes durch die schwarzen Rahmen mit der Hohlkehle angedeutet. Sie formen die Bühne für eine persönliche, faszinierende Zaubershow, für die Performance des „Handspiels“ und „Hokuspokus“. Die fortschreitende Zeit, die zu fehlen scheint, entsteht schließlich nachträglich, im magischen Prozess der Betrachtung.

 

© Christina Katharina May

 

 


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